Für eine offene Gesellschaft

Wer im Internet das Stichwort „offene Gesellschaft“ eingibt, wird zuerst auf einen Begriff des Wirtschaftsrechts stoßen. Erst dann taucht auch die philosophische Deutung des Begriffs auf, die vor allem durch Karl Popper bekannt geworden ist. Als „offene Gesellschaft“ wird eine demokratisch verfasste Gemeinschaft verstanden, deren Regierung gewählt und gewaltlos gewechselt werden kann. Sie gründet sich auf Traditionen, doch so, dass keine automatisch ein Vorrecht hätte. Was gelten soll, wird in einem fortlaufenden Gespräch der Menschen in dieser Gesellschaft erkundet. Den Religionen gegenüber wird in einer solchen Gesellschaft Neutralität gewahrt.

Mir erscheint es erstrebenswert, die Vorstellung einer offenen Gesellschaft zum Maßstab des gemeinsamen Bemühens in einem Staat zu machen. Den Christinnen und Christen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Dass die Botschaft Jesu Christi mit dem Anspruch auf Wahrheit vertreten wird, sollte niemand von ihnen in Frage stellen. Doch darf dieser Anspruch nicht mit Gewalt welcher Art auch immer durchgesetzt werden. Er soll sich durch Glaubwürdigkeit und Attraktivität des Verhaltens der Mitglieder der Kirchen zeigen.

In den Jahren der Pandemie ist etwas geschehen, das vielen vielleicht gar nicht aufgefallen ist, mir aber große Freude gemacht hat. Die Innenräume katholischer Kirche wurden rechtlich als Teil des öffentlichen Raums gedeutet. Dort galten jene Regeln, die auch für das Verhalten im öffentlichen Raum gegolten haben. Ich habe Kircheninnenräume nie als Privatraum der Glaubensgemeinschaft verstanden. Sie sollen der Öffentlichkeit offengehalten werden, daher wortwörtlich frei zugänglich sein. Oft sind Kirche versperrt. Oft stehe ich, wenn ich freudig die Tür unversperrt vorgefunden habe, vor einer Glaswand oder einem Gitter, die den Zugang zum Inneren verwehren. Offenbar wird oft aus Angst vor Diebstahl oder Beschädigung dicht gemacht. Das ist unerträglich. Eine Kirche, die sich als verschlossener Raum präsentiert, gibt sich selber auf.

Ein ganz einfacher Beitrag der Kirche zum Gelingen des gesellschaftlichen Zusammenlebens besteht darin, die Kirchen offen zu halten, möglichst auch in die Nacht hinein. Alles, was Menschen lieb ist, soll Zugang haben, auch Tiere. Unsere Gesellschaft braucht diese Freiräume, in denen kein Mensch bedrängt wird von kommerzieller Werbung, vom Geschrei des Marktes, von geistiger, seelischer oder körperlicher Nötigung. Das gilt auch für die Art und Weise, wie Glaube in diesen Räumen präsentiert wird. Christinnen und Christen sind Erben eines Schatzes, der die Welt in neuem Licht wahrnehmen lässt, der Wege in die Zukunft auftut, der freudig, kreativ und wach leben lässt. Unserer Gesellschaft braucht auch Räume, die „nach oben“ offen sind, in denen Menschen erfahren können, dass ihnen von Gott eine königliche Würde geschenkt ist.

Ein schönes Pfingstfest! Gustav Schörghofer SJ

Alles neu macht der Mai.


Ob er wirklich alles neu macht? Eines ist aber sicher, dass Sie einem neuen Gesicht in der Pfarre Lainz-Speising begegnen. Mein Name ist Stefan Hengst. Im September werde ich Ihr Pfarrer. Bis dahin hoffe ich, dass wir uns schon kennengelernt haben. Ich danke hier schon Gustav Schörghofer und all den vielen, denen ich schon begegnet bin, für die freundliche Aufnahme und die Hilfen beim Einstieg. Es ist schön, hier zu sein.

Gerne will ich etwas über mich erzählen. Ich bin 1972 als zweites von drei Kindern in Essen geboren. Die Herkunft aus Nordrheinwestfalen und besonders dem Ruhrgebiet werden Sie schnell an meinem Akzent erkennen. Eine weitere Folge ist, dass ich gerne als Gruß am Ende von Briefen und E-Mails „Glück auf“ verwende. 1998 habe ich das Ruhrgebiet verlassen, nachdem ich das Studium des Bauingenieurwesens abgeschlossen habe. In München und dann in Chicago habe ich im Brückenbau gearbeitet. Es war eine gute Zeit als Ingenieur und die erste Liebe vergisst man nicht.

2003 habe ich aber einer anderen Liebe, oder besser Sehnsucht, nachgegeben und bin Jesuit geworden. Die Ausbildung im Orden hat viele Stationen und so war ich als Novize zwei Jahre in Nürnberg und habe 2 Jahre Philosophie in München studiert. Danach schlossen sich zwei Jahre Arbeit im Norden von Uganda an. Während eines kurzen Intermezzos habe ich für 3 Monate in der Elfenbeinküste versucht, Französisch zu lernen. Das Theologiestudium (3 Jahre) hat mich nach Kenia geführt. Da sich danach ein Loch ergab, war ich für 4 Monate im Norden von Äthiopien und habe in einem Flüchtlingslager gearbeitet. Zur Priesterweihe und Kaplanszeit ging es nach Berlin. Wegen des Bürgerkriegs in Syrien kehrte ich in die Flüchtlingsarbeit zurück, erst im Süden der Türkei und dann im Libanon.

Den letzten Teil der Ordensausbildung, das Tertiat, habe ich in Dublin gemacht. Im Anschluss kam ich nach St. Blasien und habe dort im Jesuiteninternat als Seelsorger und Erzieher gearbeitet. Drei Jahre später bin ich zu „Jesuiten Weltweites Lernen“ in Genf gewechselt. Dort ging es um die Organisation und Entwicklung von online Studienformaten für Menschen, die sonst keinen Zugang zu Hochschulbildung haben.

Heuer, im März, habe ich letzte Gelübde abgelegt. Das ist zusammengefallen mit meiner hoffentlich letzten Versetzung für eine lange Zeit. Ich hatte mir gewünscht, in einer Pfarre zu arbeiten und als sich Lainz als Möglichkeit ergab, war es keine Frage, dass ich herkommen wollte. Neben Urlauben in Österreich habe ich noch andere Verbindungen zu diesem Land. Meine Oma väterlicherseits kommt aus Innsbruck. Im Frühjahr 2004 war ich für zwei Monate für ein Krankenhauspraktikum hier. Ein Jahr später habe ich große Exerzitien in St. Andrä im Lavanttal gemacht. Bislang waren die Aufenthalte kurz. Das ändert sich jetzt und ist gut so.




Glück auf, Ihr Stefan Hengst SJ

Erlöste Augen

Gegen Ende des Evangeliums vom 4. Sonntag der Fastenzeit steht ein Satz, der für mich etwas Erschreckendes hat. Jesus sagt dort: „Zu einem Urteil bin ich in diese Welt gekommen, dass die Nicht-Sehenden sehen und die Sehenden Blinde werden.“ (Joh 9,39) Sehen zu können ist für mich sehr wichtig, und mich erschreckt der Gedanke, dass ich sehenden Auges etwas, das möglicherweise für mein Leben entscheidend ist, nicht wahrnehme. Wie kann ich das vermeiden? Wie kann ich sehend werden?

In der Schule des Sehens ist es wichtig, den Phänomenen Zeit zu schenken. Ich muss lange und geduldig ausharren angesichts der Fakten. Ich muss das, was sich vor meinen Augen ereignet, lange beobachten. Anders gesagt: Ich muss dem Vorhandenen eine Chance geben, sich zu zeigen. Oft geht der Blick nur oberflächlich und rasch über die Dinge hinweg. Gerade die Erfahrung kann hinderlich sein, Dinge und Ereignisse wahrzunehmen. Denn es wird nur das aus Erfahrung Bekannte gesehen, das bisher nicht Erfahrene kommt dadurch gar nicht in den Blick. Das Verweilen spielt in verschiedenen Bereichen eine wichtige Rolle: in der Meditation, beim Betrachten von Kunstwerken, beim Wahrnehmen langsamer Prozesse. Diese Haltung ist der in der gegenwärtigen Kultur permanent eingeforderten Schnelligkeit entgegengesetzt. Das alltäglich geübte und erzwungene Tempo verhindert eine Wahrnehmung weiter Bereiche der Wirklichkeit.

Wenn ich lerne, den Dingen und Ereignissen Raum und Zeit zu schenken, mache ich die Erfahrung, dass sie mich zu einem neuen Sehen erziehen. Das Fremdartige, auf den ersten Blick nicht zu Erklärende kann sich bei näherem Hinsehen als wunderbar, erstaunlich, sinnvoll zu erkennen geben. Es sind die fremden Dinge und Ereignisse, die sich in der Schule des Sehens als Lehrer und Wegbereiter einer neuen Sicht erweisen.

Manches wird auf Grund gegebener Sehgewohnheiten nicht in seiner Bedeutung erkannt. Erst wenn die Gewohnheiten sich ändern, gehen einem die Augen auf für das, was ohnedies immer vor Augen war. Die Kunst des El Greco wurde lange nicht in ihrer Bedeutung erkannt, da man beim Betrachten von Kunstwerken auf naturgetreue Darstellung fixiert war. Erst als im frühen 20. Jahrhundert ein neues Sehen aufkam, wurde auch die Kunst El Grecos entdeckt. Fremde Kulturen können zu einem anderen Blick erziehen. Wie sieht die Welt aus der Perspektive einer Frau aus? Wie sieht sie aus der Perspektive von Armen aus? Oder aus der Perspektive von Kindern? Aus der Perspektive von Behinderten?

Die Zertrümmerung der alten abendländischen Kultur bietet die Chance zur Einübung eines neuen Sehens. Die Auflösung einer in sich geschlossenen christlichen Kultur bietet die Chance, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Auch Augen bedürfen der Erlösung. Dann erkennen sie das neue Leben in allen Dingen.
Gesegnete Ostern! Gustav Schörghofer SJ

Immer das gleiche Tun

Von Aschermittwoch bis zum Karsamstag dieses Jahres wird in der Konzilsgedächtniskirche eine große Malerei von Joachim Hohensinn hängen. Sie wird einen kleinen Teil der Gemeinde den Blicken entziehen. Fastentücher sollen ja etwas verbergen. Normalerweise werden Bilder verhüllt, deren sieghafter Glanz wenig in eine Zeit passt, die mehr der Einkehr, der Stille, der Sammlung gewidmet ist. Die Fastenzeit soll als Vorbereitung auf das Osterfest gestaltet werden. Erst mit der Auferstehung bricht wieder der Jubel, der Glanz, der Sieg hervor.

Joachim Hohensinn hat seine große Malerei ursprünglich für die Jesuitenkirche in Wien 1 geschaffen. Dort hing sie von März bis Juni 2019 im Hochaltar vor dem Bild der Aufnahme Mariens in den Himmel. In der Konzilsgedächtniskirche hängt die Malerei mitten im Raum. Hier gibt es keine Bilder zu verhüllen. Hier ist die sich um den Altar versammelnde Gemeinde das lebendige Bild Gottes. Wenn nun ein kleiner Teil der Gemeinde verdeckt wird, kann das daran erinnern, dass im Umgang mit Menschen immer nur Fragmente wahrgenommen werden. Was weiß ich vom Anderen? Welchen Spielraum räume ich ihm ein, nicht das Opfer meiner Vorstellungen und Ansprüche zu sein, sondern der Andere, eine mir immer neue und fremde Welt? Das gilt für den anderen Menschen und radikaler noch für Gott.

Joachim Hohensinn trägt mit der Spachtel Farbe auf. Horizontal gehen die Bewegungen über die Leinwand. Immer die gleiche Richtung, von links nach rechts. Immer das gleiche Tempo. Immer das gleiche Tun. So wird Farbe aufgetragen, Schicht über Schicht. Etwas größerer Druck auf die Spachtel, und alte Schichten werden freigelegt. Es ist ein Verschleiern und Entschleiern zugleich.

Angesichts der Arbeiten von Joachim Hohensinn lassen sich keine Inhalte nacherzählen. Was ist hier dargestellt? Geschieht hier etwas? Alle diese Farbflächen erzählen von Berührungen. Es ist wie die Berührung einer im Sand auslaufenden Welle, wie die Berührung des Winds auf der Wange, wie ein sanftes Streicheln über die Oberfläche eines Gegenstands. Und es ist zugleich wie das Schaben in einer Pfanne, wie das Wegwaschen unter scharfem Wasserstrahl, wie das Peitschen des Eisregens gegen die Haut. Das Zarte und das Grobe ist in diesen Farbflächen zu finden, das Heilende und das Verletzende.

Die Malerei von Joachim Hohensinn hat eine wunderbare Nähe zur Architektur der Konzilsgedächtniskirche, zur Schichtung der Betonblöcke, zur Art, wie dieser Raum ins Helle wächst. Das Element des immer Gleichen und doch Unterschiedlichen der Architektur wird in der Malerei aufgenommen. Immer das gleiche Tun. Die Malerei erzählt vom Auftragen und Abtragen, vom Mehren und Mindern, von Zartem und Grobem. Sie bildet einen Schleier, der hellsichtig macht. Vielleicht ist es gerade das, was heute notwendig ist, um in der Trübe des Alltags das Leuchten des Neuen wahrzunehmen.

Gustav Schörghofer SJ

Lass dir helfen


Vieles gibt es zu bedenken, wenn vom Helfen die Rede ist. Kann geholfen werden? Soll geholfen werden? Wie soll oder kann geholfen werden? Meistens geht es um praktische Fragen. Wer sich selbst nicht zu helfen weiß, ist auf die Hilfe anderer angewiesen.

Es lohnt sich, die Frage nach der Hilfe nicht einfach bloß im Horizont eigener oder fremder Bedürfnisse zu stellen, sondern darauf zu achten, dass wir in einem weiten Feld gegenseitiger Hilfe leben. Anders wäre Leben gar nicht möglich. Nicht nach dem Wie und Wo und Wann und Ob der Hilfe zu fragen, sondern wahrzunehmen, dass es Hilfe gibt, dass Hilfe gelebt wird, dass mein und unser aller Leben eingetaucht ist in einen Strom des Entgegenkommens, das öffnet eine völlig neue Dimension des Lebens. Von Anfang meines Lebens an habe ich Hilfe erfahren. Jede und jeder könnte viel davon erzählen, wie sehr anderes und andere geholfen haben und immer noch helfen. In praktischen Dingen ist das leicht erfahrbar. Die Hilfe geht aber weit darüber hinaus. Kunst ist Hilfe, wie der Bildhauer Karl Prantl einmal gesagt hat. Musik, Dichtung, Literatur, Kunst im allgemeinen, all das ist Hilfe. Sie ist keine Hilfe zur praktischen Lebensbewältigung, aber sie hilft, in diesem Leben etwas wahrzunehmen, das Leben erst möglich macht: Wir werden getragen von einem großen Entgegenkommen. Dieses Entgegenkommen kann in den Werken der Kunst erfahren werden. Diese Erfahrung ist mit der Erfahrung einer tiefen Freude verbunden, die das Erleben von Kunstwerken vermitteln kann.

Auch der Glauben ist Hilfe. Nicht im banalen Sinn eines billigen Trostes, sondern im tiefen Sinn der Erfahrung von Geborgenheit im großen Entgegenkommen Gottes. Dieses Entgegenkommen wird in der Bibel immer wieder beschrieben, ja mehr noch, es wird erlebbar gemacht. Eine Sensibilität für dieses Entgegenkommen kann durch das Wort der Bibel eingeübt werden. Möglicherweise haben frühere Zeiten Gottes Entgegenkommen spektakulärer erfahren, strahlender, offenkundiger. Heute herrscht weitgehend der Eindruck vor, Gott würde schweigen. Wer aber sensibel geworden ist für die Sprache Gottes, erfährt sein Entgegenkommen auch heute. Ein Blick auf die Gestalt Jesu tut völlig neue Zugänge zur Erfahrung der Gegenwart Gottes auf. Wir müssen die Sprache der kleinen Dinge, der unscheinbaren Gesten, des unmerklichen Heldentums eines alltäglichen Dienstes lernen. Nur so kann der Glauben heute bestehen. Und dann entdecken wir staunend, dass der Glauben weit mehr ist als frommes Beiwerk. Er ist Hilfe zum Leben.

Also: Lassen Sie sich helfen. Gustav Schörghofer SJ