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Anders als erwartet
Worauf warten wir, wenn wir warten? Wir stehen in Schlangen, auf Bahnsteigen, vor Bahnschranken, sitzen im Auto, im Zug, im Flugzeug, wir warten auf das Ende der Vorstellung, des Regens, der Nacht. Aber worauf warten wir? Nur, dass etwas vorübergeht, dass wir endlich an der Reihe sind? Kann das Warten schön sein? Kann es wunderbar sein, voll Zauber und stiller Spannung? Kann es dem Leben etwas Großes geben? Ich habe Menschen kennengelernt, die auf den Tod gewartet haben. Viel mehr Menschen warten aber auf das Leben, dass es sich auftut vor ihnen als ein weites Land, als ersehnte Fülle. Wir warten immer. Wir warten auf das Leben. Ein Kind hat mir einmal die Ankunft der U-Bahn beschrieben: Zuerst ein leises Donnern, dann kommt der Wind, dann das Licht und dann ist sie da. So kann das Unerhörte in unser Leben einbrechen, Donnern, Wind, Licht, Ankunft. Wäre es nicht möglich, so zu leben, dass diese Ankunft, dieses Ankommen bei mir, bei uns immer neu erfahren wird, mitten im Alltäglichen, mitten im Normalen. Vielleicht geschieht es auch. Ich bin aber unempfänglich für das Staunenswerte geworden, weil alles geplant, vorhersehbar, kontrollierbar geworden ist. Immer kommt das bei uns an, was wir selber gemacht haben, nie etwas Fremdes, Überraschendes, nie etwas Neues, noch nie Dagewesenes. Es ist langweilig geworden in der Welt. Die Christbäume müssen immer früher leuchten, die Geschenke immer üppiger aufgebaut werden, die Fröhlichkeit immer aufdringlicher, die Begleitmusik immer greller werden. Wir erwarten Bedrohliches, Böses. Wir haben verlernt, auf die Ankunft des Wunderbaren zu warten, auf etwas, das von uns nicht vorhersehbar und nicht planbar ist. Daher wird die Welt langweilig. Aber ist die Welt das wirklich, langweilig? Ist nicht das langweilig, was wir aus der Welt gemacht haben. Ich muss nur ein wenig in die Stille tauchen, ein wenig ins Dunkel gehen, und schon tut sich ein Raum auf, der groß und weit und schön ist. Mit einem Mal bekommen die alltäglichen Dinge, ein Lächeln, eine unscheinbare Bewegung, ein Laut, ein Geräusch einen ungeahnten Glanz. Denn sie verstehen sich nicht von selbst. Sie kommen mir wie ein Geschenk, wie etwas Unerwartetes und Neues entgegen. Dort, wo die Wunder in grellem Licht offen gelegt werden, verschwinden sie. Wenn sie verborgen gehalten und erwartet werden, geben sie sich zu erkennen. Aus dem Verborgenen tritt mir die Welt immer neu entgegen. Sie gibt sich zu erkennen und ist schön. Weihnachten hat mit dem Dunkel zu tun, mit der Finsternis und dem Warten auf Licht, mit dem Verborgenen und dem Ausharren, mit der Stille und dem Wachen. Es ist ein Fest des Unscheinbaren und des Kleinen. Wir warten auf das Leben. Das Leben kommt uns entgegen. Aber es schaut anders aus, als wir es erwartet und erwünscht haben. Viel schöner, zauberhaft und wunderbar.
Einen schönen Advent
Gustav Schörghofer SJ