Mitteilungsblatt September 2020

Klagelied einer Wirtshaussemmel

Das „ Klagelied einer Wirtshaussemmel“ von Karl Valentin ist neunzig Jahre alt. Als abschreckendes und mahnendes Beispiel hat es auch heute nichts von seiner Aktualität verloren:

„…Aber wie traurig und dreckig geht es uns armen Wirtshaussemmeln. Wir werden von den Kassiererinnen (früher Kellnerin) in aller Frühe ins Brotkörbchen gelegt und auf den Tisch gestellt. So – und nun sind wir der Hygiene unterworfen. Zum Frühschoppen kommt schon um 10 Uhr direkt vom Bahnhof die Familie Huber aus Neuburg. Sie setzen sich alle an den Tisch, und Frau Huber entnimmt gleich dem Brotkörbchen ausgerechnet „mich“, drückt mir den Brustkorb ein und sagt zu ihrem Mann: Anton, guck mal, fühl mal das Brötchen an, wie weich das ist. Hier in München ist das Brot nicht so knusprig gebacken, wie bei uns in Neuburg. Herr Huber hatte keine Zeit, mich gleich zu drücken, er hatte sich mit seinem Taschentuch eben die Nase geputzt, und erst, nachdem er dieses eingesteckt hatte, nahm er mich in die Hand, drückte mich zusammen, dass ich beinahe aussah, wie ein Pfannkuchen… Nach der Familie Huber nahm ein alter Herr, der zwar sehr gut gekleidet war, aber trotzdem einen riesigen Schnupfen hatte, an dem Tische Platz. Oweh, dachte ich Semmel, der wird mich und meine Kolleginnen wohl nicht anniesen – gesagt – getan – einige Dutzend Male ging ein kräftiges Ha-zieh über uns Semmeln nieder, begleitet von einem heftigen Bakteriensprühregen. Wir ertrugen gerne diese Schmach des Angespucktwerdens, uns war es nur um die armen Menschen leid, die nach dieser Sauerei vom Schicksal an diesen Tisch geführt werden. Der alte Herr aß, trank, nieste und ging. Eine Mutter mit vier Kindern waren die nächsten. Wir Semmeln zitterten, als wir die vier Kinder an den Tisch kommen sahen. „Mutter, Mutter – darf i mir a Semmel nehmen?“ schrie es durcheinander wie Siouxindianer überfielen die Buben das Brotkörberl, welches dem Ansturm nicht stand hielt und über den Tisch hinunter kollerte, und natürlich wir Semmeln auch. Die Mutter schalt leise: „Glei klaubts die Semmeln auf und tuts wieder ins Körberl neilegen schö, dass niemand siecht, dö Semmeln genga euch gar nichts an, mir bestellen Brezen. Zerdrückt, beschmutzt lagen wir vier Semmeln wieder ungegessen im Körbchen. Was wird aus uns noch werden? dachten wir…Bis der Abend kam, bis die Nacht kam – und schon gleich die Polizeistunde, da kam noch schnell ein Liebespaar geschlichen, setzte sich an den Tisch und trank mitsammen ein Glas Bier. Sie hatten auch noch Hunger – aber nicht viel Geld. Wie wärs mit den vier Semmeln? Indem sich beide verliebt in die Augen sahen, aßen sie dazu – uns vier Semmeln. Die beiden hatten gar nicht bemerkt, wie wir aussahen, denn Liebe macht blind….!“
Doch das kann Dank des allgemeinen Fortschritts Verliebten nicht mehr passieren. Denn heute wird auch die Liebe hygienisch gelebt.
Bleiben Sie gesund! Gustav Schörghofer SJ