Die Mulde der Hingabe
Die Steinplatte ist etwa einen Meter lang, 70 cm breit und 6 cm dick. Der Stein ist weiß, ein schö-ner Marmor, vielleicht aus Laas. Die Platte bildet die letzte Stufe zu einer Tür, die den Kreuzgang des Brixner Doms mit dem Kircheninneren verbindet. Wer aus dem Dom kommt, tritt auf die Schwelle und über den weißen Marmor und zwei Treppen kommt er in den Kreuzgang. Schön ist es, den Weg in beide Richtungen zu gehen. Immer kommt man aus einer zauberhaften Welt in ei-ne andere. Aus der reichen Bilderwelt des späten Mittelalters tritt man unter den rauschhaften Jubel eines barocken Himmels. Aus dem weiten Raum der Kirche kommt man unter die niedrigen Gewölbe des Kreuzgangs, aus der dichten Geborgenheit in eine bergende Weite. Lange hätte ich so hin und her gehen können. Immer über den weißen Marmor.
Viele sind über den weißen Marmor gegangen. Er ist fast völlig durchgetreten. Die zahllosen Schuhe und Füße haben 5 cm des Steins abgetragen. Eine Mulde ist entstanden. Immer neues Gehen über eine Schwelle, immer neues Eingehen in einen Raum, immer neues Hineingehen in eine Zone des Gebets, der Ehrfurcht, des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe. Eine Mulde des Ver-trauens, eine Mulde der Hingabe. Der Stein legt Zeugnis ab. Er spricht nicht nur von Vergange-nem, er weist auch in die Zukunft. Wer hier geht, vertraut sich dem Alten an und weiß, es wird ihn in Zukunft begleiten. Was gewesen ist, macht Zukunft möglich.
Verwurzelung bedeutet, um die eigene Herkunft zu wissen und in dieser Herkunft die Ermögli-chung von Zukunft zu erfahren. An das erste Jahr meines Lebens kann ich mich nicht erinnern. Doch ist dieses erste Jahr in mir, das Wissen um eine große Liebe, um Weite und Geborgenheit. Was ich erfahren habe, ist in mir gewachsen, so weit, dass ich es weitergeben kann. Ich kann nicht in mein erstes Jahr zurück, aber ich erwarte hinter jeder Tür neue weite Räume der Liebe und Ge-borgenheit. Ich erwarte sie, weil es die Räume meines Inneren sind. So gehe ich durch Tür und Tür, immer neu über Schwellen. Weil ich aus der Liebe komme, gehe ich auf die Liebe ein. Ich will nicht ohne die anderen gehen, nicht ohne die Menschen, nicht ohne die Geschöpfe und Dinge dieser Welt. Ich will mit ihnen gehen.
Wie viele Menschen waren es, die über den Stein gegangen sind? Wie viele Tiere sind über ihn gegangen? Staub und Wind haben den Stein abgearbeitet. Der Stein liegt offen. Er gibt sich preis. Er lässt sich aufzehren. Si consuma sagen die Italiener. Er konsumiert sich. Nicht wir ihn, sondern er sich für uns. Die Mulde der Hingabe. Konsum lässt sich auch ganz anders verstehen, als wir es heute gewohnt sind. Die Alternative zur Konsumgesellschaft ist eine andere Konsumgesellschaft. Der September ist im Besonderen der Schöpfung gewidmet. Vielleicht lässt sich vom Stein im Brixner Kreuzgang manches lernen.
Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt September 2016