Wieder am Beginn
Ich höre eben die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach und erinnere mich an einen Sommer vor vielen Jahren. Damals habe ich diese Musik entdeckt, bei einem Freund am Attersee. Die anderen lagen unten am Wasser. Ich bin im Haus geblieben und habe einige Schallplatten gefunden, eine Aufnahme der Suiten mit Pablo Casals. Mit wachsendem Staunen habe ich eine Schallplatte nach der anderen angehört.
Vor Jahren war ich bei den Kleinen Schwestern eingeladen. Auf einem Tisch lagen ein paar Kastanien, die eine der Schwestern von einer Wanderung mitgebracht hatte. Sie waren noch in ihren grünen Schalen. Durch einen Spalt schaute mich das wunderbare Braun an, als öffnete sich die stachelige Frucht einem Auge gleich. Im Einfachen ist eine wunderbare Schönheit zu entdecken. Diese Entdeckung verdanke ich den Kleinen Schwestern, und jedes Jahr freue ich mich seitdem auf die Zeit der Kastanien. Dann nehme ich mir die nicht geborstenen Früchte nach Hause oder bring sie Freunden als Gastgeschenk mit. Die stachelige Kugel tut sich auf und umfangen von einer weißen Hülle schaut mich das Innere an.
Irgendwann einmal habe ich aufgehört, in Gott und Jesus Christus einen Vorwurf an mein Leben zu sehen, die Aufforderung, anders zu sein, ein Besserer zu sein als ich es bin. Ich habe entdeckt, dass Jesus mir entgegenkommt, nicht einem, der besser ist als ich, sondern mir, so wie ich bin und gerade dort, wo ich bin. Wenn ich dort bin, wo ich bin, und wenn ich so bin, wie ich bin, dann laufe ich dem Entgegenkommenden nicht davon, dann erfahre ich das Entgegenkommen Jesu, wie es nun einmal geschieht. Es geschieht in der gesammelten Gegenwart des Einfachen. Es geschieht dort, wo ich mich vom Wunsch, etwas zu haben, frei gemacht habe. Es geschieht dort, wo ich mich vom Wunsch, ein anderer zu sein, frei gemacht habe. Es geschieht also dort, wo ich bei mir bin, ganz einfach bei mir bin. Die Cello-Suiten und die Kastanien helfen mir dabei. Die Vögel helfen mir dabei, die Menschen in der U-Bahn und die vielen, denen ich Tag für Tag in der Pfarre begegne.
Die große Entdeckung dieses Sommers war für mich, dass der Zugang zu allen Wundern im Einfachen zu finden ist. Ich verstehe die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach nicht. Aber ich weiß, dass sie einfach sind und mit vollendeter Einfachheit gespielt werden müssen. Ich verstehe die Kastanien nicht. Aber was mich hier anblickt, vor meinen Augen geschieht, das führt mich ins Einfache, macht mich einfach. Das Entgegenkommen Jesu ist mir völlig unbegreiflich. Es erreicht mich im Einfachen. Ich kann es nur staunend geschehen lassen. Doch damit fängt es ja an. Damit wird alles neu.
Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt Oktober 2016