Mitteilungsblatt Dezember 2016

In der Nacht

Manchmal wache ich auf, mitten in der Nacht. Es ist still, sehr still, nie dunkel. Es wird nicht mehr dunkel in unseren Städten. Auf dem Land vielleicht, in fernen Tälern, auf Bergen, da verschlingt das Dunkel alle Gestalt. In der Stadt ist immer Licht. Ich liege wach und weiß: Ich werde nicht mehr einschlafen. So stehe ich auf, braue Tee und lese und bete. Dann schlafe ich wieder. Verdrossen stehe ich auf, froh lege ich mich nieder. Wie kann es sein, dass in dieser kurzen Zeit eine wunderbare Freude entsteht?

Die Nacht gilt als Ort der Ungeheuer. Verbrechen geschehen im Dunkel, und wer Unrecht tut, scheut das Licht. In der Nacht werden die Dämonen auf uns gehetzt, die bösen Geister quälender Heimsuchungen. Doch mir begegnen in der Nacht auch die guten Geister. Der Daimon der Griechen war nicht böse, er hielt im Inneren des Menschen den Weg offen und warnte vor Verirrungen. Hellsichtig zeigte er, welcher Weg nicht zu gehen war. Sokrates gehorchte seinem Daimon. Doch ich erfahre noch mehr. In der Nacht ahne ich die Ankunft einer neuen Welt. Mir ist es immer wieder so, als würde ich an etwas rühren, das groß und wunderbar in der alltäglichen Welt bereits gegenwärtig ist, aber nicht wahrgenommen, nicht erkannt wird. In der Nacht kommt es mir nahe. Warum in der Nacht?

Wer aufwacht in der Nacht, ist fern der anderen Menschen, die schlafen in warmen Betten oder unter Brücken. Er ist allein und doch auf geheimnisvolle Weise mit vielen verbunden, die wachen wie er. Was es heißt zu erwachen, aufzuwachen, das ist auch am Tag zu erfahren. Doch am schönsten ist diese Erfahrung in der Nacht zu machen, wenn ich aus dem Dunkel von Schlaf und Traum auftauche ins Dunkel der nächtlichen Welt. Und nächtlich ist die Welt auch dort noch, wo viele Lichter brennen. Wachend kann ich die Gegenwart anderer erfahren. Ich kann die Ankunft einer Botschaft erleben. Denn nichts lenkt ab, keine Übermacht des Sichtbaren und des zu Hörenden. Ich bin offen für das, was auf mich zukommt.

Advent bedeutet Ankunft, Entgegenkommen. Die Nächte des Advent bereiten uns auf eine Ankunft vor. Sie und alle Nächte unseres Lebens können uns daran erinnern, dass wir immer Wachende sind, immer Ausschau halten, immer auf etwas ausgerichtet, das uns aus dem Jenseits der Fakten unseres alltäglichen Lebens entgegenkommt. Sie erinnern uns daran, dass wir im Argen sind und der Heilung bedürfen. Und sie lassen erfahren, dass Heilung geschieht. Sie geschieht mitten im Alltag, im Gewöhnlichen unseres Lebens, oft unerkannt, unerhört. Die in der Nacht Wachenden sind hellsichtig und hellhörig dem zugewandt, was auf sie zukommt. Die Ankunft des Heilands geschieht in der Nacht. Das ist der Grund meiner Freude.

Gustav Schörghofer SJ