Jesus entdecken
Im christlichen Glauben geht es primär nicht um Spiritualität, Transzendenz, Beziehung zum Überirdischen, Erfüllung von Geboten und Anerkennung einer höchsten Herrschaft Gottes, also um all das, was normalerweise mit Religion in Verbindung gebracht wird, sondern um eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Wo diese Beziehung gefunden wird, lebt und wächst der Glaube. Wo sie nicht gefunden wird, wandelt sich Glaube zu religiös motiviertem Denken und Handeln. Religion aber ist ambivalent, sie kann Leben fördern oder vernichten. Der Jesus Christus der Evangelien ist religionskritisch. Seine Lehre führt in das religiös motivierten Denken und Handeln unterscheidende Kriterien ein. Wer als Glaubender in einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus steht, wird den Forderungen der Religion kritisch begegnen. Kritisch bedeutet, diesen Forderungen gegenüber ein unterscheidendes Denken anzuwenden.
Das entscheidende Kriterium einer Unterscheidung ist, ob Leben gerettet oder vernichtet wird. Wird durch das Denken, Reden und Tun Lebensraum eröffnet oder verengt? Wird neues Leben ermöglicht oder verweigert?
In den säkularisierten Kulturen Europas herrschte bis vor kurzem die Vorstellung, Religion sei ein Phänomen, das langsam verschwinden werde. Doch ist das Gegenteil eingetreten. Religion beherrscht immer mehr das öffentliche Bewusstsein. Daran wird sich in Zukunft nichts ändern. Es zeigt sich allerdings, dass Religion ein äußerst vielfältiges und vieldeutiges Phänomen ist. Von der Spiritualität selbstverliebter Erlösungssucher reicht sie bis in die Bereiche gewalttätiger Fanatiker. Es genügt nicht, einen Sinn für Transzendenz zu haben, an etwas Übersinnliches zu glauben oder sich Geboten Gottes blind zu unterwerfen. Es genügt nicht, religiös oder nicht religiös zu sein. Wie kann ich in der gegenwärtigen Situation unterscheiden und das erkennen, was die Mystik den Willen Gottes nennt? Eine Möglichkeit, und ich denke die entscheidende, ist, Jesus zu entdecken, ihn in unserer Zeit neu zu entdecken.
Vielfach wird heute von kirchlicher Seite das Verschwinden des Glaubens beklagt. Wer sagt aber, dass ein Verschwinden traditioneller Formen von Religionsausübung gleichzusetzen wäre mit einem Verschwinden des Glaubens. Wäre es nicht denkbar, dass Glaube, eine persönliche Beziehung zu Jesus, heute in ganz anderer Weise zum Ausdruck kommt als in früheren Jahrhunderten? Möglicherweise steht einer Neuentdeckung Jesu auf Seiten der Kirche gerade eine auf überkommene Formen fixierte Wahrnehmung entgegen. Wie kann ich Jesus heute neu entdecken? Darum wird es in diesem Jahr gehen.
Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt Februar 2017