Ins Wasser gehen
Jeden Sommer meiner Kindheit verbrachten wir an einem See. Als ich etwa sieben oder acht Jahre alt war, ging ich eines Tages immer weiter ins Wasser hinein. Es reichte mir bis zur Brust, bis zum Hals, schließlich bis zum Mund. Dann habe ich den Boden unter den Füssen verloren und entdeckt, dass mich das Wasser trägt. So habe ich Schwimmen gelernt. Ich habe gelernt, den festen Boden unter den Füssen zurückzulassen. Wie das gelungen ist, wundert mich manchmal. Offenbar habe ich früher schon die Erfahrung gemacht, dass ich gehalten und getragen bin, dass mir nichts passieren kann. So konnte ich den Boden unter den Füssen aufgeben und entdecken, dass das fremde Element mich trägt.
Ich, noch kein Jahr alt, in den Armen meiner Mutter. Ich als Kind an der Hand meines Vaters. Ich als Einjähriger am Tisch vor der mit einer Kerze verzierten Torte, auf einem Sessel stehend, die Rechte auf dem Tisch, die Linke heftig bewegend. Allein auf dem Bild, im Sonnenlicht des 5. März 1954, auf der Plattform des Trompeterturms, die Stadt weit unter mir. Und dabei sehr entschieden und munter. Die Eltern standen ja vor mir, unsichtbar auf dem Foto aber mir gegenwärtig. So ist es geblieben. Die Eltern, die Schwester, viele Menschen um mich herum sind unsichtbar geworden, bleiben mir aber gegenwärtig. Und sagen mir immer neu: Du wirst getragen, dir kann nichts passieren.
Wer nicht bereit ist, den Boden unter den Füssen zu verlieren, wer nicht bereit ist, Liebgewordenes aufzugeben, wird nicht lernen zu schwimmen. Er wird nicht die Erfahrung machen, in einem Element zu leben, das ihn trägt. Ich werde getragen. Wenn ich aber mit dem Gold all meiner Sicherheiten ins Wasser gehe, dann geh ich zugrunde. Wenn ich nicht Besitz und Eigenes loslasse, werde ich die Erfahrung des Getragenwerdens nicht machen. Auch die Einteilung der Menschen in Freund und Feind, in Zugehörige und Fremde fallen eines Tages weg. Ich kann das Terrain der klaren Einordnungen verlassen und entdecke, die Gemeinschaft der Anderen trägt mich und ist voller Wunder.
Alle Menschen kommen aus einer großen Geborgenheit. In der Begegnung mit ihnen kann ich ihnen einen Hauch dieser Geborgengeit weitergeben, in guten Gedanken, in Worten, in aufmerksamen Gesten. Ich gehe immer tiefer ins Wasser hinein und entdecke, das Wasser trägt. Schließlich habe ich keinen Boden mehr unter den Füssen und alles losgelassen. Doch das Wasser trägt. Es trägt alle, die sich ihm anvertrauen. Alle, die ins Wasser gegangen sind. Das Wasser trägt. Wenn ich das weiß, habe ich Gott gefunden.
Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt März 2017