Der Raum der Liebe
Ich habe eine lebhafte Phantasie. Besonders kreativ ist sie im Erfinden von Katastrophen. Alle meine Vorhaben und Unternehmungen werden von Katastrophenahnungen begleitet. Ohne die Vorstellung von Katastrophen mache ich gar nichts. Und was ich mache, das geschieht alles trotzdem. Ich lasse mich von den vorgestellten Katastrophen nicht davon abhalten. Die vorgestellten Katastrophen treten meistens nicht ein. Und die wirklichen Katastrophen habe ich mir nicht vorgestellt. Die wirklichen Katastrophen waren sogar meiner Phantasie unzugänglich.
Meine Katastrophenahnungen haben mich dazu geführt, das Gelingen von Vorhaben und Unternehmungen als Geschenk zu erkennen. Es könnte ja alles auch ganz anders kommen. Wer viel mit Menschen zu tun hat und auf die Hilfe von anderen angewiesen ist, wird bald entdecken, dass alles gemeinsame Tun im Wohlwollen der anderen gründet. Dieses Wohlwollen lässt sich weder erzwingen noch durch Belohnungen erkaufen. Es ist freies Geschenk. Das freie Geschenk des Wohlwollens schafft den Raum der Liebe. Der Raum der Liebe schenkt dem Leben Freiheit zur Entfaltung.
Ein Raum der Liebe entsteht dort, wo das Wohlwollen in der Zuwendung zum anderen Menschen und zur Welt im Allgemeinen konkrete Gestalt annimmt. Konkrete Gestalt nimmt das Wohlwollen dort an, wo jemand für die anderen das tut, was ihm oder ihr wichtig ist, was sie können, gelernt haben, wovon sie begeistert sind, wofür sie brennen. Mit „nett und freundlich sein“ fängt das an und geht weit über die Grenzen der eigenen Welt hinaus und immer neu auf Fremdes ein. Die Liebe ist immer auf Eroberungszug. Anders kann sie nicht sein. Daher ist der Raum der Liebe ein atmender, ein sich expandierender Raum.
Der Raum der Liebe ist von Katastrophen umlagert. Es gibt ihn trotz aller Katastrophen, er wächst wider die Logik der Katastrophen, er nimmt Gestalt und Größe an, obwohl alles gegen dieses Wachstum spricht. Die Phantasie erschafft viele Vorstellungen von Katastrophen. Doch die wirklichen Katastrophen sind anders als die vorgestellten. Wirkliche Katastrophen unserer Zeit sind die Bequemlichkeit und ihr Zwillingsbruder, das atemlose Streben nach dem eigenen Vorteil. Sie erwürgen jedes Wohlwollen. Dabei war es Wohlwollen, das Jesus aus dem Grab erstehen ließ. Die Bequemlichkeit hätte ihn im Grab gehalten, das Streben nach dem eigenen Vorteil gar nicht in den Tod gehen lassen. Der Raum der Liebe ist trotz dieser Katastrophen geschaffen worden und wächst durch uns trotz aller Katastrophen. Ich sehe die Pfarre als einen Raum der Liebe.
Gesegnete Ostern! Gustav Schörghofer SJ
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