Das Normale
Mehr als zwei Jahre leben wir nun bereits mit den Corona-Viren. Die kleinen Wesen werden uns auch in Zukunft begleiten. Sie werden künftig zum normalen Leben gehören. Von einer Rückkehr zur Normalität ist immer wieder die Rede. Doch was ist das, das „Normale“? Ist es der früher gewohnte Zustand? Was sollen wir als Maß nehmen für das „Normale“? Jenes scheinbar ins Grenzenlose zu steigernde Immer-Mehr eines materiellen Wachstums oder einen ebenfalls ins Grenzenlose sich steigernden Konsumismus? Ist es „normal“, dass wenige Menschen über einen Großteil der Reichtümer dieser Erde verfügen? Ist es „normal“, dass Millionen Menschen unter Krieg und Vertreibung zu leiden haben? Was ist das: das „Normale“?
Vor Jahren habe ich einen Vortrag von Michael Hiesmayr gehört, seine Antrittsvorlesung an der
MedUni Wien. Er sprach über „Das Normale in Anästhesie und Intensivmedizin“. „Es ist ein spezifisches Wissen, das wir täglich anwenden müssen, das uns Auskunft gibt über das „Normale“ jedes/r individuellen PatientIn. Wir kümmern uns während der Operation um die „normalen“ Werte der Herz-, Kreislauffunktion und den notwendigen Flüssigkeitsersatz. Es ist Aufgabe der Anästhesisten und Intensivmediziner dieses „Normale“ zu beobachten, zu erforschen und als Richtschnur anzuwenden.“ So fasst Michael Hiesmayr den Inhalt seiner Vorlesung zusammen. (www.meduniwien.ac.at/web/ueber-uns/news/detail/prof-dr-michael-hiesmayr-das-normale-in-anaesthesie-und-intensivmedizin/).
Europa befindet sich gegenwärtig in einem äußerst kritischen Zustand. Er erfordert Menschen, die sich „um die normalen Werte der Herz-, Kreislauffunktion und den notwendigen Flüssigkeitsersatz“ kümmern. Aus der kunstgeschichtlichen Forschung weiß ich, dass im Fall von Europa dazu folgendes gehört: alles ist mit allem dynamisch verbunden und in Wechselwirkung; kleinere Ordnungen werden jeweils von größeren Ordnungen umfangen und sind in sie eingebettet; die Welt verhält sich uns gegenüber nicht stumm, sondern in der Weise eines aktiven Entgegenkommens; auch im scheinbar Unbedeutenden und Kleinen ist keimhaft das Ganze enthalten. Alles das gehört zu den normalen Werten unseres physisch-geistigen Organismus.
Wir erleben zurzeit eine Zersplitterung unseres physisch-geistigen Organismus, verursacht von Partikularinteressen aller Art. Menschen wie Anästhesisten und Intensivmediziner tun not, Menschen also, die nicht nur von der Reaktion auf eine jeweilige gegenwärtige Bedrohung getrieben werden, sondern den Organismus als Ganzen im Blick haben und sich um die „normalen Werte“ kümmern. Sie agieren nicht im Vordergrund und treten vielleicht gar nicht als die großen Gestalter in Erscheinung. Aber sie sind für das Leben im Ganzen von größter Bedeutung. Mehr als die großen heroischen Gesten hilft uns das ganz normale lebenserhaltende Tun des Alltags.
Gesegnete Ostern! Gustav Schörghofer SJ
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