Erlöste Augen
Gegen Ende des Evangeliums vom 4. Sonntag der Fastenzeit steht ein Satz, der für mich etwas Erschreckendes hat. Jesus sagt dort: „Zu einem Urteil bin ich in diese Welt gekommen, dass die Nicht-Sehenden sehen und die Sehenden Blinde werden.“ (Joh 9,39) Sehen zu können ist für mich sehr wichtig, und mich erschreckt der Gedanke, dass ich sehenden Auges etwas, das möglicherweise für mein Leben entscheidend ist, nicht wahrnehme. Wie kann ich das vermeiden? Wie kann ich sehend werden?
In der Schule des Sehens ist es wichtig, den Phänomenen Zeit zu schenken. Ich muss lange und geduldig ausharren angesichts der Fakten. Ich muss das, was sich vor meinen Augen ereignet, lange beobachten. Anders gesagt: Ich muss dem Vorhandenen eine Chance geben, sich zu zeigen. Oft geht der Blick nur oberflächlich und rasch über die Dinge hinweg. Gerade die Erfahrung kann hinderlich sein, Dinge und Ereignisse wahrzunehmen. Denn es wird nur das aus Erfahrung Bekannte gesehen, das bisher nicht Erfahrene kommt dadurch gar nicht in den Blick. Das Verweilen spielt in verschiedenen Bereichen eine wichtige Rolle: in der Meditation, beim Betrachten von Kunstwerken, beim Wahrnehmen langsamer Prozesse. Diese Haltung ist der in der gegenwärtigen Kultur permanent eingeforderten Schnelligkeit entgegengesetzt. Das alltäglich geübte und erzwungene Tempo verhindert eine Wahrnehmung weiter Bereiche der Wirklichkeit.
Wenn ich lerne, den Dingen und Ereignissen Raum und Zeit zu schenken, mache ich die Erfahrung, dass sie mich zu einem neuen Sehen erziehen. Das Fremdartige, auf den ersten Blick nicht zu Erklärende kann sich bei näherem Hinsehen als wunderbar, erstaunlich, sinnvoll zu erkennen geben. Es sind die fremden Dinge und Ereignisse, die sich in der Schule des Sehens als Lehrer und Wegbereiter einer neuen Sicht erweisen.
Manches wird auf Grund gegebener Sehgewohnheiten nicht in seiner Bedeutung erkannt. Erst wenn die Gewohnheiten sich ändern, gehen einem die Augen auf für das, was ohnedies immer vor Augen war. Die Kunst des El Greco wurde lange nicht in ihrer Bedeutung erkannt, da man beim Betrachten von Kunstwerken auf naturgetreue Darstellung fixiert war. Erst als im frühen 20. Jahrhundert ein neues Sehen aufkam, wurde auch die Kunst El Grecos entdeckt. Fremde Kulturen können zu einem anderen Blick erziehen. Wie sieht die Welt aus der Perspektive einer Frau aus? Wie sieht sie aus der Perspektive von Armen aus? Oder aus der Perspektive von Kindern? Aus der Perspektive von Behinderten?
Die Zertrümmerung der alten abendländischen Kultur bietet die Chance zur Einübung eines neuen Sehens. Die Auflösung einer in sich geschlossenen christlichen Kultur bietet die Chance, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Auch Augen bedürfen der Erlösung. Dann erkennen sie das neue Leben in allen Dingen.
Gesegnete Ostern! Gustav Schörghofer SJ
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