Radikal Mensch werden
Radikalität ist verdächtig. Radikale seien eine Gefährdung für die Gesellschaft. Sie seien rücksichtslos in der Verfolgung ihrer Ziele. Wer an Radikale denkt, der sieht in Gedanken fliegende Steine und vermummte Gestalten.
Mir geht ein Satz von Reinhold Schneider nicht aus dem Kopf: „Unsere wesentliche Armut ist die an Radikalität, an Menschen, die chemisch reine Elemente sind.“ (Winter in Wien, 138) Reinhold Schneider war alles andere als ein gewaltbereiter Radikalinski. Er hat in seinen 1958 verfassten Notizen sehr hellsichtig Dinge gesehen, die auch heute noch von großer Bedeutung sind.
Um welche Radikalität könnte es sich handeln. Als Christ könnte ich auf die Bergpredigt verweisen, oder auf die im Matthäusevangelium an die Bergpredigt anschließenden Weisungen Jesu. Ich möchte aber auf etwas anderes hinweisen, das meiner Meinung nach leicht übersehen wird. Beim Christentum handelt es sich ja nicht einfach um eine Lehre, eine Botschaft, sondern um eine Fleisch und Blut gewordene Gestalt. „Das Wort ist Fleisch geworden“ heißt es am Beginn des Johannesevangeliums. Das heißt, die wesentliche Voraussetzung für die Wirksamkeit der gesamten Botschaft ist die Bereitschaft, ja der entschiedene Wille, einzugehen in die irdische Gestalt eines Leibes. Und Leib meint nicht bloß den eigenen Körper, sondern den Körper einer Gemeinschaft, eines Volkes, ja der gesamten Menschheit. Leib meint darüber hinaus unsere Erde, den Himmelskörper. Die wesentliche Voraussetzung für das Wirksamwerden der Botschaft Jesu ist also die leidenschaftliche Hingabe an diese irdische Welt im Bemühen um das Wohl der gesamten Welt. Selbstverständlich kann das nur im begrenzten eigenen Umfeld gelebt werden. Aber mir muss klar sein, dass mein eigener Leib in einer dauernden und engen Beziehung steht zu allen anderen Lebewesen dieser Welt, ja zu allem Unbelebten in gleicher Weise.
Wenn ich mein Christentum radikal leben will, muss ich es in meinem Leib leben. Und es muss mir klar sein, dass mein Leib in Kommunikation lebt mit dem Leib der Menschen um mich herum, mit dem Leib eines Volkes, ja mit dem Leib der gesamten Erde. Wann war das besser zu erfahren als gerade in den vergangenen zwei Jahren. Wenn ich meinen Glauben an die Menschwerdung Gottes radikal leben will, kann ich nicht ausweichen in eine geistige Welt des rein Spirituellen. Wenn ich meinen Glauben radikal leben will, kann ich mich auch nicht dem Wagnis des Vertrauens in meine Mitmenschen entziehen. Ich werde darauf vertrauen, dass ihr Tun von einem guten Geist gelenkt wird. Selbstverständlich gibt es auch ein Handeln, das von einem bösen Geist geleitet wird. Um beides zu unterscheiden, gibt es Regeln. Eine ist: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Achten wir also auf die Früchte.
Ein gesegnetes Fest der Menschwerdung! Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt Jänner 2022