Um zu leben
Um zu leben, brauchen wir offene Räume. In geschlossenen Räumen sterben wir ab wie aus der Erde gerissene Pflanzen. Seltsam, dass der Gedanke des offenen Raumes so eng verbunden ist mit dem Gedanken der Verwurzelung. Das Leben ist im Offenen verwurzelt, es kann nur im Offenen gelebt werden. Keineswegs darf der offene Raum mit dem Unbehausten verwechselt werden. Der offene Raum ist immer ein bestimmter Ort, eine begrenzte Umgebung, die uns Schutz und die Möglichkeit des Wachsens schenkt. Wenn aber die Grenzen undurchlässig werden, wenn der Ort zum fest geschlossenen Innenraum wird, dann bleibt dem Leben keine Möglichkeit zur Entfaltung. Leben bedeutet immer, ins Offene zu gehen.
Ein wesentlicher Beitrag des Christentums zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft besteht in der Schaffung und Pflege offener Räume. In seiner Menschwerdung ist Gott selbst aus sich heraus gegangen und schafft so einen offenen Raum.
Um zu leben, müssen wir Empfänglichkeit üben. Damit ist gemeint, dass wir uns von dem, was uns begegnet, berühren lassen. Wenn wir Dinge, Lebewesen, Menschen nicht nahe an uns heranlassen, so nahe, dass sie uns zu Herzen gehen, leben wir nicht. Empfänglichkeit und Offenheit bedingen einander. Wer empfänglich ist für das, was ihm begegnet, wird immer neu Grenzen überschreiten und ins Offene hineinwachsen. Wer sich dem gegenüber, was ihm begegnet, nicht verschließt, dessen Leben wird in immer weiteren Kreisen Gestalt annehmen. Es wird sich nicht verlieren, sondern durch die jeweils eigene Antwort auf das Begegnende ins Eigene finden.
Ein wesentlicher Beitrag des Christentums zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft besteht darin, den Sinn für Empfänglichkeit wach zu halten und zu kultivieren. „Splanchnicomai“ bedeutet im Griechischen „ich erbarme mich“. Das Wort leitet sich von „splanchnon“ ab, womit die edlen Innereien Leber, Herz, Lunge bezeichnet werden, oder auch der Mutterleib und schließlich Gemüt und Herz. Mit dem Verb wird ein Verhalten Jesu charakterisiert, das er in der Begegnung mit Menschen in Not zeigt. Meist wird es mit „er hatte Mitleid“ übersetzt. Das ist aber missverständlich, denn es geht nicht um Leid. Es geht vielmehr darum, sich vom anderen anrühren zu lassen und selber den anderen zu berühren. Das Gemeinte wäre besser mit „es ging ihm zu Herzen“ zu benennen. Es geht also darum, empfänglich zu sein für die besondere Gegenwart des anderen und dieser Gegenwart im eigenen Leben einen Raum zu schenken. Das kann ein Teilnehmen an Freude oder Leid sein. Auf jeden Fall heißt es, am anderen nicht vorbeizuleben, sich ihm gegenüber nicht abzuschotten. Das ist die Haltung Gottes.
Beides, die Pflege des offenen Raumes und die Kultivierung der Empfänglichkeit, sind gegenwärtig von größter Bedeutung. Denn ohne sie wird unsere Gesellschaft nicht gedeihen. Zu diesem Gedeihen können die Christinnen und Christen einen entscheidenden Beitrag leisten.
Viel Mut und Freude! Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt Februar 2022