Mitteilungsblatt Jänner 2020

Schöne Aussichten

Die Erde wird ein heißer Boden. Es wird Kriege geben. Die Völker werden sich erbarmungslos bekämpfen. Auch dort, wo man bisher Geborgenheit fand, wird es mit aller Gemütlichkeit vorbei sein. Die Familien sind entzweit. Auf die Freunde ist auch kein Verlass mehr. Das steht alles schon in der Bibel. Doch auch heute setzen sich die Starken rücksichtslos gegen die Schwachen durch. Es bilden sich neue Gemeinschaften. Da gibt es jene, die auf der richtigen Seite sind und die anderen bekämpfen, die Ausbeuter der Umwelt und Befürworter von Tierversuchen, die Leugner von Genoziden und die Missbrauchstäter, überhaupt alle, die sich nicht bedingungslos der richtigen Überzeugung anschließen. Unmerklich gerät die gegenwärtige Gesellschaft wieder dorthin, wo frühere Gesellschaften bereits einmal waren. Es werden Glaubenswahrheiten und Überzeugungen aufgestellt, die unbedingt zu gelten haben. Wehe dem, der sich nicht unterwirft. Er wird dem Feuer übergeben. Im Internet lodern die Scheiterhaufen. Unsere Gesellschaft bewegt sich in einer Scheinwelt, die ihr von gerade Herrschenden aufgezwungen wird.
War es früher besser? Nein, es war nicht besser. Auch vor vierhundert Jahren haben sich die Menschen in einer Scheinwelt bewegt. Wehe dem, der nicht die herrschenden Glaubensvorstellungen teilte. Wehe dem, der es wie ein Friedrich Spee wagte, gegen den herrschenden Hexenwahn anzugehen. Dabei war doch alles christlich durchtränkt, eine vom Christentum geprägt Kultur. Doch die Haltung der christlichen Seefahrer und Eroberer hat sich kaum von der Haltung der Vertreter einer neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterschieden. Es ging damals und es geht heute um den persönlichen Vorteil, um Reichtum für wenige und Ausbeutung vieler. Hat sich nichts geändert?
Können wir heute anders leben? Scheinbar ist alles beim Alten geblieben. Doch der Schein trügt. Denn es ist etwas anders geworden. Wir können heute die Täuschung überwinden und die Wirklichkeit entdecken. Die Wirklichkeit, das heißt: den konkreten Menschen, das konkrete Lebewesen, die tatsächlichen Dinge. In einer Zeit, in der ein die ganze Welt umfangendes Netz künstlicher Wirklichkeit immer mehr von der Aufmerksamkeit Besitz zu ergreifen scheint, kann ich mich dem mir konkret Begegnenden zuwenden. Das ist die Entscheidung eines und einer jeden Einzelnen. Die Welt ist neu zu entdecken. Was gibt es zu entdecken? Eine neue Schönheit, die mir in den Lebewesen und Dingen aufleuchtet, neue Möglichkeiten, die mir von anderen Menschen eröffnet werden. Alles das begegnet mir dort, wo ich nicht mich, sondern den Anderen suche. Auch Gott ist ein Anderer. Und der Gott Jesu Christi ist ein Gott der konkreten Wirklichkeit.

In diesem Sinn: mit Gott ins Neue Jahr. Gustav Schörghofer SJ