Was ich von den Amseln gelernt habe
Salzburg ist meine Heimatstadt. Einwände gegen das katholische Salzburg gibt es viele. Gerade in ihrer Schönheit hat die Stadt Abgründe und kann zerstörend wirken. Doch stellt Salzburg mit seiner nahen Umgebung von Ebenen und hohen Bergen etwas dar, das in dieser Form einzigartig ist. Ich habe dort erfahren, dass es möglich ist, eine Welt aus dem Glauben heraus zu gestalten, eine Welt, die Geschlossenheit in sich besitzt, eine klare Gestalt, und zugleich offen ist und ausstrahlt. Freilich ist diese aus dem Glauben gestaltete Welt ein Werk der Vergangenheit, das in der Gegenwart nicht eingeholt wird. Ich habe mich immer nach einer Vergegenwärtigung dieser Welt gesehnt und sie nie gefunden.
Wer in einem Nest geborgen ist und wachsen will, muss dieses Nest verlassen. Sonst geht er entweder zugrunde oder verkümmert. Meine zentrale Glaubenserfahrung ist die Menschwerdung Gottes. Gott verlässt aus Liebe zur Welt sein trinitarisches „Nest“ und macht sich auf die Suche nach dem Menschen. Das Aus-sich-Herausgehen Gottes, sein ekstatisches Eingehen in die Welt, hat mich dazu bewegt, meine wunderbare Salzburger Welt zu verlassen. Im Hineingehen in die Welt, in der Suche nach dem Menschen habe ich gelernt zu glauben. Diese Bewegung ist nicht eigentlich eine Nachfolge, sondern ein Gehen parallel zu Jesus. Denn sie hat mich in viele Bereiche hineingeführt, mit denen der historische Jesus, der Jesus der Evangelien vor 2000 Jahren, nichts zu tun hatte, wie etwa in die Kunst oder in eine Pfarre im mittelständischen Hietzing. Da gibt es keine Fußspuren Jesu, in die ich treten könnte. Ich gehe auf eigene Gefahr.
Woher nehme ich die Kraft, diesen Weg zu gehen? Am 12. Mai 1989 ist in der Neuen Zürcher Zeitung ein Text von Hans Weder erschienen: „Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament“. Weder weist darauf hin, dass Jesus im durchwegs mehrdeutigen Verhalten der Menschen den Glauben entdeckt, also Vertrauen wahrnimmt und bestärkt. Jesus spielt dem Menschen den Glauben zu, so etwa, wie ein Witz, der zum Lachen bringen kann, dieses Lachen „zuspielt“. Oder wie im Sport ein Ball zugespielt und aufgenommen wird. Sicher hat mir Salzburg den Glauben zugespielt. Aber diese großen Anfänge sind lange vorbei. Es sind heute viele kleine Ereignisse im Alltag, die mir den Glauben zuspielen, die diesen Glauben lebendig erhalten und wachsen lassen. Damit das geschehen kann, muss ich mich allerdings in den Alltag hineinbegeben.
Die Amseln werfen ihre Jungen, die sie bis dahin hingebungsvoll gefüttert haben, zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Nest. Doch die jungen Amseln können noch nicht fliegen. Die Welt außerhalb ist lebensgefährlich. Nicht wenige der jungen Vögel werden Opfer ihrer Feinde. Die anderen lernen fliegen. Wir müssen das bergende Nest verlassen. Wir müssen unser Leben aufs Spiel setzen. Nur so lernen wir fliegen. Das habe ich von den Amseln gelernt. Und von Jesus.
Ein gesegnetes Neues Jahr Gustav Schörghofer SJ
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