Warum?
Warum verlässt jemand sein kleines Paradies, eine Welt, in der er glücklich sein konnte, alles hatte, Wohlstand, Schönheit, liebevolle Beziehungen? Was veranlasst jemand dazu, über die Grenzen der eigenen und vertrauten Welt hinauszugehen, sich auf Unbekanntes, Gefahren, mögliches Scheitern einzulassen? Warum sollte sich ein Hochbegabter um durchschnittlich Begabte bemühen? Diese Fragen beschäftigen mich. Irgendwann ist mir klar geworden, dass die Menschwerdung Gottes nichts Anderes ist als die Antwort auf all diese Fragen.
Warum wird Gott Mensch? Warum verlässt er seinen Himmel, sein Paradies, in dem er alles hatte? Warum ist er so wahnsinnig, sich auf diese Welt mit all ihren Mühen und Plagen, ihrer Gemeinheit und Hinterhältigkeit, ihrer Niedrigkeit einzulassen? Warum wird er Mensch? Im Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola gibt es die Betrachtung der Menschwerdung. Der Übende soll sich die Dreifaltigkeit auf ihrem Thron im Himmel vorstellen, wie sie auf die Erde schaut und wahrnimmt, dass alles zu Hölle fährt und dann beschließt, dass die zweite Person Mensch wird. Als Vierundzwanzigjähriger habe ich von dieser Betrachtung nichts gewusst. Was mich aber nicht losgelassen hat seit damals ist, dass sich Gott das antut. Damals ist mir klar geworden: Wenn sich Gott so verhält, dann kann ich nicht in meinem kleinen, schönen Reich bleiben, dann muss auch ich mich aufmachen.
Was bringt mich dazu, mich über die Grenzen meiner Welt hinauszuwagen? Die Gründe können verschiedene sein. Ein Grund, und wie ich denke der entscheidende, ist die Liebe. Wenn ich diesen Weg aus dem Eigenen hinaus in die Welt hinein und auf die Menschen zu aus Liebe gehe, dann wird sich mir eine neue Welt auftun. Dann wird sich die Welt ins Wunderbare hinein verwandeln. Unsere Liebe buchstabiert die Liebe Gottes nach, ein bisschen so, wie der Volksschüler den Worten eines großartigen Gedichts buchstabierend folgt. Aber nach und nach geht uns auf, dass wir am Rande eines Meeres stehen, dass uns von weit her Mächtiges anhaucht, dass wir mit unseren Gedanken, Worten und Werken an Großes und Geheimnisvolles rühren.
Überall dort, wo Menschen aus sich herausgehen, auf andere zugehen, sich Anderem öffnen, klingt die große Melodie der Hingabe Gottes an diese Welt an. Oft geschieht das in kleinen Gesten, Aufmerksamkeiten im Alltäglichen. Es geschieht in der sorgfältigen Ausübung eines Handwerks, in der Pflege bedürftiger Menschen, im Bemühen von Lehrerinnen und Lehrern, im Tun von Künstlerinnen und Künstlern, im Musizieren, in tausend Dingen. All das verwandelt die Welt und hält unsere Gesellschaft zusammen. Und in all dem ist etwas Großes zu ahnen, das von weither kommt und ganz nahe ist, eine stille und mächtige Liebe.
Einen schönen Sommer! Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: /data/cmspagecontents/780.pdf