Mitteilungsblatt Juli und August 2021

​Nähe lernen

Niemand wollte mir die Hand geben. Mit den Umarmungen war es völlig vorbei. Auf dem Gehsteig Entgegenkommende sind plötzlich hinter parkenden Autos verschwunden und haben einen Bogen um mich gemacht. Beim Essen durfte niemand neben mir sitzen und in der Straßenbahn haben die Mitfahrenden Abstand von mir gehalten. Mir wurde verboten, mit mehr als fünf anderen Menschen die Messe zu feiern. Mir wurde verboten, Museen und Konzerte zu besuchen. Ich habe auch nicht mehr zum Heurigen dürfen. Und schließlich wurde mir geboten, mein Gesicht hinter einer Maske zu verbergen. Aber nicht nur mir ist es so ergangen, sondern allen anderen ebenso. Kein Wunder, dass viele den Aufenthalt unter anderen Menschen und die Nähe zu ihnen gar nicht mehr gesucht haben. Wenn die Dinge so stehen, ist es besser, sich gänzlich zurückzuziehen. Wir haben die Nähe verlernt und müssen sie nun neu lernen.

Das Christentum ist eine Religion der Nähe. Die Grunddynamik des Christentums ist nicht Vergeistigung, Aufstieg nach oben, sondern Verleiblichung, Fleischwerdung. Wir feiern die Inkarnation Gottes, seinen Abstieg zu uns Menschen und nicht nur zu den Menschen, sondern zu allem in der Welt, zu Belebtem und Unbelebtem. Lange ist vergessen worden, dass Erlösung nicht nur Befreiung des Menschen allein bedeuten kann, sondern dass damit die Befreiung der gesamten Welt gemeint ist. Die gesamte Schöpfung soll zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes gelangen. Das verlangt von mir, Anteil zu nehmen am Leben, an der Existenz des Anderen, der Menschen, der Tiere, der Pflanzen, der Steine und aller Elemente. Die europäische Kultur ist lange von Distanzierung gekennzeichnet gewesen. Europäer haben sich von Nicht-Europäern distanziert, Christen von Nicht-Christen, Katholiken von Protestanten, die Angehörigen der einen Nation von denen der anderen usw. Ein Höhepunkt der Distanzierung ist mit der systematischen Ausbeutung der gesamten Welt, wie sie in der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das Diktat von Konsum und Gewinnsteigerung stattfindet, erreicht worden. Schon lange vor Corona haben wir die Nähe verlernt.
Es kommt ja nicht auf das Händeschütteln an. Ich möchte vielmehr den Anderen neu wahrnehmen. Ich möchte ihm als Anderem begegnen, einem anderen Menschen, einem Tier, einer Pflanze, den Dingen. Begegnen bedeutet hier immer, leibhaftig begegnen. Denn auch die Techniken der virtuellen Welt sind Techniken der Distanzierung. Ich möchte mich also von dieser mächtigen Dynamik Gottes ergreifen lassen, einer Dynamik der Nähe, die hinführt zum leibhaftig anwesenden Gegenüber. Ich möchte die Nähe lernen, jetzt, in diesem Sommer.
Ich wünsche Ihnen einen schönen, gesegneten Sommer! Gustav Schörghofer SJ