Was ich in Lainz sah und lernte
Gibt es ein Jenseits? Als ich vor zehn Jahren nach Hietzing aufgebrochen bin, sagte man mir: Du wirst schon sehen, für die Hietzinger hört die Welt am Wienfluss auf und hinter Schönbrunn ist der Rand der Erdplatte erreicht. Sie sitzen in ihren Häusern, Villen, Wohnungen und Gärten im vertrauten Kreis ihrer Familien und Freunde und jenseits dessen gibt es nichts. Sie glauben an Gott, aber Gott ist auch einer von ihnen. Das ist ihr Himmelreich, in dem sie nicht gestört werden wollen.
Gibt es nicht doch ein Jenseits, auch für die Hietzinger? Für einen Seelsorger ist das die entscheidende Frage. Denn bei allem Verständnis für die Bedeutung von Heim und Familie ist ihm klar, dass die Seele immer in ein Jenseits strebt. Wo aber ist das Jenseits der Hietzinger zu finden? Auf der Suche nach diesem Jenseits hat mir eine Fähigkeit sehr geholfen, die ich im Umgang mit Kunstwerken eingeübt habe: präzise zu sehen. Vorurteile trüben den Blick. Um aber die anderen Menschen, die Welt um mich herum wahrzunehmen, muss ich lernen, präzise zu sehen. Und ich muss den anderen Zeit schenken. Es gibt den wunderbaren Satz der amerikanischen Malerin Georgia O´Keeffe: „Nobody sees a flower, really – it is so small - we haven´t time and to see takes time, like to have a friend takes time.“
Wo sind die kleinen Blumen des Jenseits? In meinen zehn Jahren als Pfarrer von Lainz-Speising habe ich viele entdeckt. Es gibt Aufmerksamkeit füreinander, besonders für alte und bedürftige Menschen. Es gibt Aufmerksamkeit und Respekt im Umgang mit Menschen, die in sehr bescheidenen Verhältnissen leben. Menschen, die auf der Flucht sind, werden aufgenommen und betreut. Es gibt viel Freude daran, den Kindern Raum zu schenken. Jugendliche beleben die Pfarre weit mehr, als auf einen ersten Blick zu erkennen ist. Die Ansprüche von Pflanzen und Tieren werden wahrgenommen. In der Kirchenmusik wird aus dem Gotteslob gesungen und kann die Gregorianik gemeinsam mit neuem Liedgut gepflegt werden, ohne dass das eine dem anderen seinen Platz streitig macht. Es wird das Wagnis eingegangen, zeitgenössische Kunst und Musik im Kirchenraum zuzulassen. Die Kirche wird offengehalten, auch auf die Gefahr der Störung unserer ruhigen Ordnung hin. Viele Menschen kommen zur Feier des Gottesdienstes und gehen wieder hinaus in das Jenseits des Kirchenraums. Und viele wissen die Architektur unserer Kirche zu schätzen, die weit jenseits dessen ist, was normalerweise als heimelig empfunden wird. In unserer Pfarre habe ich viele Menschen entdeckt, die über sich und ihre individuellen Bedürfnisse hinaus leben und in ihrer Umgebung Verantwortung übernehmen.
Den Menschen meiner Pfarre danke ich dafür, dass sie mich alles das sehen gelehrt haben. Ich danke ihnen dafür, dass sie mir ein zauberhaftes und wunderbares Jenseits erschlossen haben. Es stimmt schon: to see takes time, like to have a friend takes time.
Tausend Dank! Gustav Schörghofer SJ
zum Downloaden: Mitteilungsblatt Juli und August