Die Schönheit des Novembers
Der November beginnt mit Tagen des Totengedächtnisses und endet mit dem Christkönigsfest. Das Dunkel nimmt zu. Nebel verhängen die hellen Stunden. Durch geöffnete Fenster dringt die kühle Feuchte des Nieselregens. Es ist ein trostloser Monat, der den Ungetrösteten keinen Trost zu schenken weiß und die Traurigen versinken lässt im Grau formlos verrinnender Stunden. Alles scheint in die Ferne zu rücken, sich zu entziehen, wie die Toten, wie die angekündigte Herrschaft eines Erlösers, der nicht und nicht kommt. Das Königtum Jesu Christi, eine Verheißung, die sich von uns zu entfernen scheint wie ein Zug in der Nacht. Es wird alles leer, alles so still.
Wenn ich hineinhöre in diese Leere, wenn ich die Stille bleiben lasse, sie behüte, pflege, dass sie mir nicht abhanden kommt, dann kann etwas geschehen. Dann zeigt sich etwas. Die Toten sind ja gar nicht mausetot, ganz im Gegenteil. Ihre Gegenwart gehört zum Kostbarsten, das mir gegeben ist. Die Toten tun mir nicht nur das Tor zur Vergangenheit auf in vielen Erinnerungen, sie eröffnen mir auch Zukunft. Ich denke dabei gar nicht an ein Wiedersehen im Jenseits, mag ja sein. Ich denke an etwas anderes. Sie stehen zwischen mir und dem unfassbaren Gott, diese Toten, ich lebe mit ihnen mein Leben auf Gott hin. Mit ihnen gehe ich ein in Gott. Was sie nicht mehr leben konnten, das lebe ich. Auf meine Weise, doch in mir leben die Toten auf Gott hin.
Auch der tote Jesus lebt in mir. Dieses Leben, das unterbrochen wurde, abgebrochen, abgeschnitten, abgewürgt, es wird in mir weitergelebt. Das Königtum Jesu Christi ist ein Königtum des Gescheiterten, des Erniedrigten und Verachteten. Es ist ein Königtum, das sich im Verborgenen zu erkennen gibt. Also ein Novemberkönigtum. Wer diesem König begegnen will, muss sich auf die Leere einlassen, darf sie in seinem Leben nicht verstellen. Vor jeder Begegnung mit dem Auferstandenen steht das leere Grab. Der November ist der Weg hinein in die Leere des Grabs. Aus Liebe zum Toten muss ich diesen Weg gehen. Dann kann mir im Nieselregen des Novembers aufgehen, dass er gar nicht tot ist, dass er in mir lebt und mir entgegenkommt. Das Entgegenkommen Gottes aus der Leere des Todes ist zu erfahren, wenn ich das begrenzte Leben Jesu Christi, seine Art in der Welt zu sein, die Welt zu sehen und mit ihr umzugehen, in mir bewahre und weiterlebe. Es ist ein begrenztes Leben, das mich immer wieder an den Rand des Todes führt. Doch wenn ich den Tod Jesu in meinem Leib trage, dann wird mir auch sein Leben zukommen. Es kommt mir entgegen. Das ist die Schönheit des Novembers, der Nebelwanderungen und des abnehmenden Lichtes, der dunklen Feuchte des Nieselregens und der unfassbaren Weite, die uns in all dem umfängt. Wir gehen ins Offene, ins Freie.
Einen schönen November! Gustav Schörghofer SJ
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