Was gilt?
Es gibt Menschen, die genau wissen, wie man sich zu benehmen hat. Sie kennen die Regeln und machen nichts falsch. Es gibt auch Menschen, die genau wissen, wie etwas auszusehen hat, wie zum Beispiel echte Kunst aussieht oder wirkliche Musik klingt. Sie haben ganz genaue Vorstellungen, geformt an dem, was sie gewohnt sind und als gültig anerkennen. Es gibt auch Menschen, die genau wissen, was in der Religion wahr und falsch ist. Und dann gibt es Menschen, die alles das nicht wissen. Sie wissen sich nicht zu benehmen, haben keine Ahnung von Kunst und sind ausgestoßen aus dem Kreis der Frommen. Mit denen redet man nicht. Mit denen will man nichts zu tun haben.
Ich kenne mich in einigen Bereichen verhältnismäßig gut aus. Aber je besser ich mich auskenne, desto vorsichtiger bin ich im Urteil geworden. Denn den eigenen Vorstellungen ist nicht zu trauen. Wir basteln uns Konstruktionen zurecht. Und gerade heute, in einer Epoche nach dem Ende alter Traditionen ist es besonders notwendig, vorsichtig zu sein und den Vorstellungen anderer genauso zu misstrauen wie den eigenen. Allzu leicht wird aus Befürchtungen, Vermutungen, Wünschen, Neigungen und Abneigungen ein Gedankengebäude errichtet, in dem die Wirklichkeit oder all das, was uns begegnet, Platz haben soll. Was nicht hineinpasst, das gibt es nicht. Oder es wird schlicht und einfach abgelehnt, bekämpft, verachtet.
Wir leben in Zeiten großer Verwirrung. Was gilt oder nicht gilt ist oft sehr schwer zu sagen. Die alten Gewissheiten sind zerbrochen. Neue Gewissheiten sind allzu oft verdächtig. Ja, meistens gilt: Wenn wir uns zu sehr gewiss sind, wird unser Blick eingeengt. Wir sehen nur das, was in unsere Vorstellung passt und unseren Wünschen entspricht. Aber vielleicht ist die Welt viel größer und weiter, viel zauberhafter und voller Wunder? Vielleicht hindern uns gerade unsere festen Überzeugungen daran, Neues zu entdecken, uns auf Ungewohntes einzulassen? Vielleicht kleben wir zu sehr an dem, was wir kennen, beherrschen, aus eigener Kraft bewältigen? Haben wir noch einen Sinn dafür, dass es etwas gibt jenseits unseres eigenen Vermögens? Einen Sinn für das, was der Glaube Gnade nennt. Gemeint ist damit die Tatsache, dass wir uns das Leben nicht selber schenken können, sondern dass es uns geschenkt wird. Das geschieht jeden Tag neu auf überraschende Weise. Aber entdecken werden das nur jene, die wissen, dass sie nicht aus eigenem Verdienst oder weil sie sich so gut auskennen am Leben sind, die wissen, dass sie sich die entscheidenden Dinge schenken lassen müssen. Das sind jene, die wissen, dass sie auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Sie vertrauen sich der Aufmerksamkeit eines Gegenübers an, das sie in ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit wahrnimmt und liebt. Der Gott der Bibel wendet sich dem von anderen Verachteten zu. Dort, wo alles zugrunde gegangen ist, macht er einen neuen Anfang. Dieser Anfang ist größer als alle noch so perfekten Konstruktionen der Selbstgenügsamen.
Gustav Schörghofer SJ
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