Mitteilungsblatt Oktober 2021

​Aus gegebenem Anlass

Sie sind an Alzheimer erkrankt. Oder sterben plötzlich an einem Herzinfarkt. Sie sagen mir, eben erst die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhalten zu haben. Bei einem Kind im Mutterleib wird Down-Syndrom festgestellt, bei einem erwachsenen Mann Darmkrebs, bei seiner Frau ein großes bösartiges Geschwür an einer der Nieren. Immer wieder begegnen mir Menschen, die an schrecklichen Krankheiten zu leiden haben oder andere begleiten und pflegen, die unheilbar erkrankt sind, nicht nur alte, sondern auch jüngere. Immer wieder soll ich etwas sagen. Aber was ist zu sagen? Gibt es da etwas zu sagen? Wo ist in all dem ein Sinn? Haben diese Krankheiten, haben diese Tode einen Sinn?

Wenn ich Krankheit und Tod allein, nur für sich nehme, kann ich keinen Sinn entdecken. Plötzlich bist Du tot. Plötzlich überfällt Dich die Krankheit, zwingt Dich nieder, macht aus Dir ein hilfloses Bündel. Aber Krankheit und Tod sind keine isolierbaren Gegebenheiten. Immer ist es ein Mann, eine Frau, ein Kind, die krank sind, die sterben. Und der Mann, die Frau, das Kind, sie sind nicht isoliert, allein auf sich gestellt. Sie leben in Beziehungen, sind für andere wichtig. Die Frage für mich ist nicht, welchen Sinn das Unglück hat, sondern ob ich den anderen im Unglück die Treue halte. Lass ich sie sitzen, verdrücke ich mich? Oder bleibe ich bei ihnen, kümmere ich mich um sie?
Toby ist ein Kind in der Erzählung „Mijito“ von Lucia Berlin. Toby ist entstellt und zittert, er kann nicht reden und wird durch ein Loch im Bauch ernährt. „Natürlich kann wegen Toby eine Ehe zerbrechen oder eine Familie, aber wenn nicht, dann scheint der gegenteilige Effekt einzutreten. Ein solches Kind fördert die tiefsten Gefühle zutage, gute und schlechte, und eine Stärke, eine Würde, die ein Mann und eine Frau sonst nie in sich oder dem anderen entdecken würden.“ (Lucia Berlin, Was ich sonst noch verpasst habe, 157) Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Lucia Berlin recht hat. Ein Kind wie Toby kann bei denen, die es aufnehmen, eine tiefe und immer tiefere Liebe wachrufen. Und darauf kommt es doch an, dass wir lernen zu lieben und immer tiefer zu lieben. Allerdings können Menschen auch an einem Kind wie Toby oder durch Überforderung in der Pflege von Angehörigen zugrunde gehen, erschöpft nicht mehr weiterwissen. Wie können wir einander helfen, die Beziehungen zu jenen Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, so zu leben, dass sie nicht in die Sackgasse der Erschöpfung führen?
Mich fasziniert am christlichen Glauben die Zuwendung Gottes zu einer Menschheit, die dem Verderben von Krankheit, Elend und Tod ausgeliefert ist. Warum macht er das? Aus Liebe. Aus Liebe und immer größerer Liebe kann ich mich anderen zuwenden. Ich brauche aber die Hilfe anderer, dass diese Wendung zu den Notleidenden nicht in den eigenen Zusammenbruch führt. Der Sinn ist ja, in der Liebe zu wachsen. Und damit das geschieht, sind wir aufeinander angewiesen.
Gustav Schörghofer SJ

zum Downloaden: Mitteilungsblatt Oktober