Mitteilungsblatt Jänner 2022

Eine neue Welt

In den vergangenen zwei Jahren gab es Gelegenheit genug, neue Erfahrungen zu machen. Die für mich bedeutendste Erfahrung ist eine ganz einfache, nämlich die Erfahrung leiblicher Zusammengehörigkeit. Ein Virus nimmt seinen Ausgang von einer Stadt in China und verbreitet sich in Windeseile über die ganze Erde. Eine Variante dieses Virus wird in Südafrika festgestellt und ist kurz danach schon in Europa angelangt. Unsere Leiber sind in ein weltweites Kommunikationsnetz eingebunden, ja mehr noch, sie bilden dieses Netz. Bisher war Kommunikation etwas, das sich vom Leiblichen gelöst hatte, weitgehend virtuell stattfand und so ein weltweites Netz bildet. Doch nun wird mit einem Mal deutlich, dass wir leiblich miteinander in Verbindung stehen, dass wir Menschen weltweit einen einzigen Leib bilden.
Der Gedanke des einen Leibes, einer weltweiten Gemeinschaft der Menschen, ist urchristlich. Selbstverständlich ist es der Geist, der die Gemeinschaft der Christinnen und Christen eint. Doch diese Einigung findet im Leib statt, nicht in zunehmender Vergeistigung. Und mehr noch: Wir sind eingebunden in eine noch größere Gemeinschaft, eine Gemeinschaft mit belebter und unbelebter Natur, ja mit dem gesamten Kosmos. Eine andere Krise lässt uns eben diese Erfahrung machen, die jetzt vielberedete Klimakrise.
Lange hat die leibhaftige Gemeinschaft der Getauften ihren Ausdruck in einer christlichen Kultur gefunden. Wer eine barocke Kirche betritt, kann das sehr schön erfahren. Christinnen und Christen waren eingebettet in eine Kultur, die ihrem Glauben auf vielfältige Weise leibhaften Ausdruck verlieh. Die entscheidenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Kirchen sind daher auch nicht theologischer, sondern kultureller Natur. Evangelische, Orthodoxe, Katholiken unterscheiden sich wesentlich durch ihre Kultur. Doch diese Unterschiede lösen sich gegenwärtig immer mehr auf.
Wir stehen heute an der Schwelle zur Entdeckung einer neuen Welt. Nicht mehr die gespaltene Welt gegensätzlicher Kulturen, nicht mehr die entzweite Welt einander bekämpfender Nationen, sondern die Welt einer Menschheit, die immer mehr lernt, sich als eine leibliche Gemeinschaft wahrzunehmen und diese Gemeinschaft durch ihre Einbettung in eine gemeinsame Natur zu erkennen. Wir werden lernen müssen, mit den Viren zu leben, in Frieden zu leben, nicht im Krieg. Denn sie gehören zu unserer gemeinsamen Natur.
Wir als Christinnen und Christen können zu der entstehenden Kultur einer großen leiblichen Gemeinschaft Wesentliches beitragen. Denn zu Weihnachten und in jeder Messe feiern wir die Leibwerdung Gottes und seine Gemeinschaft mit uns und der gesamten Schöpfung. Wenn wir in Gestalt des Brotes den Leib des Herrn empfangen, dann gehen wir eine weltweite leibliche Beziehung zu allem Geschaffenen ein. Ach, wäre doch die Wirkung der Kommunion genauso ansteckend wie das Coronavirus!
In diesem Sinn Gottes Segen im Neuen Jahr. Gustav Schörghofer SJ